22.12.2021 Bettina Glaser

Die große Welt im Kleinen: Spielzeugland Franken und Südthüringen

Einst war Sonneberg in Südthüringen weltberühmt für seine Spielwaren – genauso wie das direkt nebenan liegende Neustadt bei Coburg in Oberfranken. Noch heute gilt Franken auch außerhalb dieser ­Region als Spielzeugland – nicht nur wegen der Nürnberger ­Spielwarenmesse, die als Weltleitmesse jährlich im Februar die ­Branche zusammenbringt. Eine Reise durch eine vom Wandel ­geprägte Region zu den Geburtsstätten von Puppen, Teddys, Modelleisenbahnen & Co.


Unzählige Augenpaare starren von den Regalen. Manche mit, manche ohne Lider, manche eingerahmt von geschwungenen Wimpern. Jedes Augenpaar ist in einen Kopf eingesetzt. Viele davon warten geduldig, so sieht es zumindest aus, aufgestellt in Reih und Glied. Anderen Köpfen, so scheint es, dauert das zu lange. Sie haben ihre Augen geschlossen, sich zur Seite gelegt oder gar auf den Kopf gestellt. Lange schon warten manche der ungefähr 5000 Puppenköpfe im Ersatzteillager von Puppendoktor Thomas Packert in Neustadt bei Coburg auf ihren Einsatz, denn bereits sein Vater Peter Packert hatte sie gekauft. „Er hat das in den 70ern angefangen und Archive und Lager von ehemaligen Herstellern aufgekauft“, erzählt Packert, der seinem Vater 2005 als Puppendoktor nachfolgte.

Wertvolles Wissen

Auch heute noch landen bei Thomas Packert Exemplare, die einen Arztbesuch dringend nötig haben: Ihnen fehlen Augen, sie haben ein Loch im Kopf oder gar eine Hand verloren. Oft haben sie einen persönlichen Wert: Gerade Familienerbstücke würden häufig zu ihm gebracht. Aber auch eine 10 000 Euro teure französische Puppe hatte er schon als Patientin. Die gigantische Ersatzteilsammlung und der riesige Wissensschatz aus einer Vielzahl von Berufen, die einst für die Puppenherstellung nötig waren, helfen ihm bei der Arbeit. Augenglasbläser und -einsetzer, Puppenkopfmacher, -maler, Puppenfriseusen und sogar -schuhmacher waren beispielsweise früher an der Herstellung beteiligt. „Mein Vater ist zu manchen 80-Jährigen hingefahren und hat sich zum Beispiel erklären lassen, wie das Augeneinsetzen funktioniert “, erzählt der nebenberufliche Puppendoktor.
 

In seiner Werkstatt in Neustadt bei ­Coburg macht Puppendoktor Thomas Packert Puppen wieder heil. Seinem Vater hat er schon früh über die Schultern geschaut, als dieser Puppen repariert hat. Foto: Bettina Glaser

Spielzeug aus Pappe

In die verschiedenen Berufe von damals gewährt das Museum der Deutschen Spielzeugindustrie in Neustadt bei Coburg Einblicke. „Es gab eine sehr starke Zergliederung in einzelne Berufsbilder. Das waren Kleingewerbetreibende, die sich spezialisiert haben“, erzählt Museumsleiter Udo Leidner-Haber. Die Materialien, aus denen die Spielwaren hergestellt wurden, änderten sich über einen Zeitraum von 250 Jahren: von Holz, Papiermaché und Pappe hin zu modernem Kunststoff, was in den unterschiedlichen Werkstätten wie der eines Papiermachédrückers vom Anfang des 20. Jahrhunderts gezeigt wird.

 

Die Werkstatt eines Papier­machédrückers Anfang des 20. Jahrhunderts, dargestellt im ­Museum der Deutschen Spielzeug­industrie in Neustadt bei Coburg. Foto: Bettina Glaser

Der Letzte seiner Art

Mithilfe von Trichtern, wie sie in der historischen Stopferei im Museum ausgestellt sind, stopft Alexander Meier heute noch Puppenkörper für Online-Shops und Künstler zum Beispiel – natürlich nicht mehr mit Sägemehl aus dem Thüringer Wald wie früher, sondern mit silikonisierter Watte. Er betreibt die letzte Puppenstopferei in Neustadt bei Coburg mit dem Namen „The Dollbody Company“.  „Einst gab es hier 21 Puppenstopfereien, seit 1995 sind wir die letzte“, erzählt er und bedauert: „Es wurde bei der Herstellung immer mehr nach Südostasien verlagert.“ 1995 ist er in die Familientradition, die seit 1880 besteht, eingestiegen, „obwohl ich das nie wollte“, wie er sagt. Als Toningenieur war er zuvor in der ganzen Welt unterwegs, jetzt fertigt er in Oberfranken mit vier Mitarbeitern rund 100 Puppenkörper am Tag und verschickt sie weltweit.

 

Alexander Meier stopft einen Puppenkörper für die Künstlerin Hildegard Günzell. Seine Kunden kommen aus der ganzen Welt. Foto: Bettina Glaser

Barbie aus Franken

Auch wenn nicht mehr viele übrig geblieben sind von den 800 Spielwarenbetrieben mit durchschnittlich zwei Beschäftigten in den 20er-Jahren, so ist die Stadt Neustadt bei Coburg auch heute noch von der Geschichte der Spielwarenherstellung geprägt. Heimatpflegerin Isolde Kalter zeigt bei ihrer Stadtführung „Puppenmacher auf der Spur“ unzählige ehemalige Produktionsstätten von damals, zahlreiche Gebäude im Klassizismus-Stil mit ihren klaren Linien. Rund um den Bahnhof ist bis etwa 1925 ein ganzes Viertel mit neuen Häusern von Spielzeugherstellern entstanden. Die Heimatpflegerin berichtet auch vom bekannten Puppenfestival und von einer Berühmtheit, die ihre Wurzeln in der Stadt hat: Das Unternehmen Hausser setzte „Lilli“ aus einer Comicserie der Bildzeitung als Puppe um. 1958 kopierte die amerikanische Firma Mattel diese und brachte sie als Barbie neu auf den Markt. Die Rechte verkaufte das fränkische Unternehmen nach Amerika.  „Wenn sie gewusst hätten, welchen Siegeszug die Barbie von Mattel in den Kinderzimmern angetreten ist, hätten sie sich vielleicht anders entschieden“, sagt Christine Spiller, Leiterin des Coburger Puppenmuseums, vor der Vitrine mit zwei Bild-Lillis.

 

Die Vorbilder der heutigen Barbie-Puppe kamen aus Neustadt bei Coburg. Diese sogenannten Bild-Lillis sind im Puppen­museum in Coburg ausgestellt. Foto: Frank Schulz/Coburger Puppenmuseum

Die Weltspielzeugstadt

Direkt neben Neustadt bei Coburg am Südhang des Thüringer Waldes liegt die Stadt Sonneberg. Infolge des Zweiten Weltkriegs waren beide Städte durch die innerdeutsche Grenze getrennt. Auch Sonneberg war eine Berühmtheit, galt es doch vor 150 Jahren als Weltspielzeugstadt. „Jedes zweite bis dritte Spielzeug deutschlandweit kam aus Sonneberg und weltweit jedes fünfte bis sechste“, erzählt Julia Thomae, stellvertretende Museumsleiterin des dort ansässigen Deutschen Spielzeugmuseums. Imposante Gebäude erinnern an die letzte Blüte, darunter das neoklassizistisch gestaltete Rathaus mit Uhr- und Glockenturm von 1928. Als eines der Wappen prangt über dem Eingang das Wahrzeichen der Stadt, das Sonneberger Reiterlein – eines der ersten in Sonneberg produzierten Holzspielzeuge. Ein paar Exemplare werden heute im 1901 gegründeten Deutschen Spielzeugmuseum gezeigt, das die älteste Spezialsammlung für Spielzeug in Deutschland beherbergt. Im Frühjahr soll ein neuer Teil des Museums eröffnet werden, in dem auch die Schattenseite der Spielwarenherstellung mit Armut und Kinderarbeit dargestellt ist. Das bekannteste Ausstellungsstück ist die „Thüringer Kirmes“ mit 67 fast lebensgroßen Figuren, das ein typisch ländliches Volksfest der thüringisch-fränkischen Region des 19. Jahrhunderts darstellt. Es wurde 1910 auf der Weltausstellung in Brüssel präsentiert. „Über 37 Sonneberger Firmen waren daran beteiligt. Es war eine Art Visitenkarte für die Spielzeughersteller“, berichtet Thomae.
 

Mit der „Thüringer ­Kirmes“ präsentierten Spielzeug- und Puppenhersteller aus Sonneberg 1910 auf der Weltausstellung in Brüssel ihr Können. Foto: Thomas Wolf/Deutsches Spielzeugmuseum
Sina Martin, Geschäftsführerin bei Martin ­Bären, mit dem größten Teddybär der Welt. Er ist 3,40 Meter hoch, stehend sogar 5,60 ­Meter und 500 Kilo schwer. Foto: Bettina Glaser

Größter Teddy der Welt

Eine ebenfalls beeindruckende „Visitenkarte“ finden Besucher in der Fußgängerzone im Schaufenster der Firma Martin Bären: den laut Guinessbuch mit 5,60 Metern größten Teddybär der Welt. Für ihn hat das Unternehmen extra angebaut. Als einer der wenigen Spielzeughersteller der Region hat Martin Bären nach der Wende den Neustart geschafft, nachdem der Vater der heutigen Geschäftsführerin Sina Martin den Betrieb von der Treuhand zurückgekauft hatte. „Ich bin stolz auf meine Familientradition“, sagt die junge Frau, die das Unternehmen schon seit zehn Jahren in fünfter Generation führt. Besucher können bei Martin Bären nicht nur das Deutsche Teddybärenmuseum besuchen, sondern auch ein Kuscheltier ausstopfen. Die siebenjährige Dina aus Dortmund hat sich für eine graue Katze entschieden, in deren Körper sie eine Ladung Füllwatte nach der anderen stopft. Am Ende näht sie diesen mit ein paar Stichen zu, durchtrennt die Nabelschnur – also den Faden – und lässt den Namen  „Linchen“ und das Gewicht in den Kuschelpass eintragen. „Die Kinder sollen einen persönlichen Bezug zum Kuscheltier bekommen und merken, wie viel Arbeit darin steckt“, sagt Martin. Dinas liebevoller Blick zu ihrem neuen Kuscheltier zeigt, dass das gelungen ist.

Besuch der Produktion

Projekte existieren in Sonneberg viele: Martin Bären arbeitet an Umbauplänen für mehr Einkaufserlebnis, der Bahnhof soll zum Spielzeugbahnhof umgestaltet werden und der Modellbahnhersteller Piko will einen Flagship-Store mit einem Museum eröffnen, berichtet Piko-Vertriebsleiter Jens Beyer. Schon jetzt können Interessierte bei Firmenführungen manchen der 170 Mitarbeiter über die Schultern schauen: zum Beispiel bei der Montage der 60 bis 70 Teile einer Gartenbahn oder bei der Produktion mit den riesigen Kunststoffspritzmaschinen. „Wir haben auch eine eigene Fertigung in China, denn der hohe Anteil an Handarbeit ist in Deutschland nicht machbar“, erzählt Beyer. Die Auslagerung und die Spezialisierung der Produktion auf Modellbahnen statt Haushaltsspielgeräte hätten den Standort gestärkt.

 

Bei Piko in Sonneberg montieren Mitarbeiter Gartenmodellbahnen. Bei ­einer Führung bekommen Besucher Einblicke in die Produktion. Foto: Bettina Glaser

Mehr Elektromodelle

Mit der Corona-Krise blieb die Nachfrage bei Piko, aber auch beim Miniaturmodellhersteller Herpa mit Sitz im mittelfränkischen Dietenhofen hoch. „Die Branche hat profitiert. Die Leute hatten Zeit für neue Hobbys“, erzählt Herpa-Pressesprecher Mathias Neigenfind. Herpa liefere jedes Jahr vier Millionen Modelle, so Neigenfind. Das Unternehmen arbeite mit allen namhaften Fahrzeugherstellern zusammen, bekomme oft die 3-D-Fahrzeugdaten lange vor Erscheinen des Autos.  „Wie überall geht der Trend zur Elektromobilität“, erzählt Matthias Wolff, Produktmanager bei Cars & Trucks, über die neuesten Modelle im Maßstab 1:87. Heimarbeiterinnen wie einst in Oberfranken und Südthüringen setzen die detailgetreuen Fahrzeuge zusammen. Wie diese in ihre Einzelteile zerlegt aussehen, erfahren Besucher im firmeneigenen Museum. Hier sind auch einige Dioramen ausgestellt, genauso wie zahlreiche Modelle.

 

Ein Diorama aus dem Herpa-Museum am Firmensitz in Dietenhofen. Am Standort werden die Miniatur-Autos im Maßstab 1:87 hergestellt. Foto: Bettina Glaser

Spielwelt für die Kleinen

Nur 20 Kilometer weiter hat ein Spielzeugunternehmen seinen Sitz, das – wie noch einige andere Hersteller der Region – weit über die Grenzen Frankens hinaus bekannt ist: Playmobil. Im Funpark des Plastikspielzeugherstellers in Zirndorf dreht sich alles um die Kinder. Anders als in anderen Freizeitparks sollen sie hier selbst aktiv und kreativ werden, klettern, hüpfen und natürlich mit den Spielwaren spielen. Und so kommt im Spielzeugland Franken und Südthüringen am Ende jeder auf seine Kosten – von kleinen Feuerwehrmännern und Puppenmüttern bis hin zum großen Modellbauer.

Impressionen

Fotos: Bettina Glaser (12), Thomas Wolf/Deutsches Spielzeugmuseum (1), Playmobil Funpark (1)


ARCD-Reiseservice

Anreise:

  • Mit dem Pkw:
    Aus Richtung München über die A9 und A3 ­sowie A73,
    aus Richtung Norden kommend über die Autobahnen A4 und A71 und
    vom ­Autobahndreieck Suhl über die A73.
  • Mit der Bahn: Im ICE nach Nürnberg oder ­Coburg.

Übernachten:

  • Brauereihotel Der Grosch in Rödental, www.der-grosch.de;
  • Playmobil Hotel ­neben dem Funpark in Zirndorf, www.playmobil-hotel.de.
  • Unterkünfte und weitere Infos beim ARCD Reisebüro, Tel. 09841/409150 oder info@arcd-reisen.de.

Aktivitäten:

Auskünfte:

Titelfoto: Bettina Glaser