Kurz ist häufig doch zu lang:
Bedienung von Touchscreens lenkt ab
Berührungssensitive Bildschirme, sogenannte Touchscreens, gehören in vielen modernen Fahrzeugen zur Standardausstattung. Zahlreiche Komfort-, Fahr- und Sicherheitsfunktionen sind nur noch über sie anwählbar, während Schalter und Dreh-Drück-Steller allmählich aus den Cockpits verschwinden. Warum sich dieser Trend negativ auf die Verkehrssicherheit auswirken kann, erläutern Experten aus Recht, Verkehrspsychologie und Autoindustrie.
Ein Autofahrer kommt im März 2019 von einer Bundesstraße ab, gerät in eine Böschung und prallt an mehrere Bäume. Dafür wurde er im März 2020 vom Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe zu einem Bußgeld in Höhe von 200 Euro und einem Monat Fahrverbot verurteilt (Az 1 Rb 36 Ss 832/19). Nach Auffassung des Gerichts verunfallte der Fahrer eines Tesla-Modells, weil er den fest neben dem Lenkrad installierten berührungsempfindlichen Monitor während der Fahrt nutzte, um das Intervall des bereits wegen starken Regens eingeschalteten Scheibenwischers anzupassen. Während bei Fahrzeugen anderer Hersteller diese Funktion meist über einen kleinen Schieber oder ein Drehrad am Lenkstockhebel variiert werden kann, musste der Tesla-Fahrer das Intervall über eine Touchfläche am Bildschirm per Fingertipp regeln. Bei dieser Tätigkeit blickte der Fahrer länger auf den Monitor und achtete weniger auf das Verkehrsgeschehen. In der Folge kam es zum Unfall. Weshalb fiel das Strafmaß aber so hoch aus?
Nicht die Benutzung des Gerätes wird untersagt – wie etwa beim Smartphone –, sondern die zu lange Blickabwendung von dem, was auf der Straße passiert. In der Urteilsbegründung heißt es, dass der fest im Fahrzeug eingebaute Touchscreen ein elektronisches Gerät nach § 23 Abs. 1a Satz 1 und Satz 2 der Straßenverkehrsordnung (StVO) sei. Dort steht: „Wer ein Fahrzeug führt, darf ein elektronisches Gerät, das der Kommunikation, Information oder Organisation dient oder zu dienen bestimmt ist, nur benutzen, wenn (…) zur Bedienung und Nutzung des Gerätes nur eine kurze, den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen angepasste Blickzuwendung zum Gerät bei gleichzeitig entsprechender Blickabwendung vom Verkehrsgeschehen erfolgt oder erforderlich ist.“
Zweck unerheblich
Das Gericht entschied, dass die Bedienung des Touchscreens nur unter den Voraussetzungen dieser Vorschrift gestattet sei, ohne dass es darauf ankäme, welchen Zweck der Autofahrer mit der Bedienung verfolge. Dass dieser mit der Einstellung des Scheibenwischers eine sicherheitstechnisch notwendige Bedienhandlung vornahm und nicht nur etwa einen Radiosender suchte, blieb für das Gericht ohne Belang. Falls technisch möglich, hätte er alternativ auch eine Sprachsteuerung nutzen können, die im Tesla für diese Funktion aber nicht zur Verfügung steht.
Das Urteil lässt aufhorchen, bleibt doch ein wesentlicher Punkt unbeantwortet: Wie wird eine kurze Blickabwendung zeitmäßig definiert? Die Antwort offenbart eine rechtliche Grauzone, wie ARCD-Vertragsanwalt Christian Aldebert weiß: „Der Gesetzgeber hatte sich ehemals überlegt, ob man ‚kurz’ als ein Zeitmaß von einer Sekunde definieren sollte, kam davon aber wieder ab und entschied sich, es vom Einzelfall abhängig zu machen.“ Und so bleibt eine kurze oder längere Blickabwendung vom Verkehrsgeschehen Auslegungssache. „Hätte sich der Fahrer auf sein Aussageverweigerungsrecht berufen, wäre er wohl infolge fehlender Beweise nicht in diesem Maße verurteilt worden“, ist sich Aldebert sicher. Doch die Hoffnung auf ein vermindertes Strafmaß darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ablenkung zu kritischen Verkehrssituationen führen kann. Obwohl Ablenkung als Unfallursache von Experten als gravierende Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit betrachtet wird, gibt es in Deutschland dazu keine amtliche Unfallstatistik. Anders als beim Genuss von Alkohol oder Drogen ist Ablenkung beim Autofahrer nach einem Unfall nur schwer nachzuweisen.
Gefährliche Blindfahrt
Immerhin belegen Studien die drohende Gefahr. So hat das Sicherheitsinstitut der amerikanischen Automobil-Vereinigung (AAA) 2017 untersucht, wie sich Ablenkung auf die Aufmerksamkeit von Autofahrern auswirken kann. Die Forscher stellten fest, dass Infotainmentsysteme (Radio, Navigation, Freisprecheinrichtung, Fahrerassistenz und weitere Funktionen in einer Bedieneinheit) massiv ablenken können. Insbesondere die Programmierung des Navigationszieles nahm bei einigen Systemen durchschnittlich 40 Sekunden Zeit in Anspruch. Dabei legten die Testfahrer bei 40 km/h über 444 Meter Wegstrecke zurück. „Selbst bei ‚nur‘ 50 km/h bewegt sich ein Auto in einer Sekunde rund 14 Meter weit. Eine Blindfahrt über eine oder mehrere Sekunden kann da schnell zum Unfall führen“, betont auch Diplom-Psychologe Christian Müller vom TÜV Nord.
Aus Folgen von Ablenkung können Wahrnehmungs-, Entscheidungs- und Handlungsfehler sowie schließlich Fahrfehler resultieren. Das nutzbare Sehfeld und die bewusste sowie unbewusste Wahrnehmung werden eingeschränkt. Autofahrer richten ihren Blick auf die Fahrbahnmitte beziehungsweise den vorausfahrenden Wagen. Spurhaltung, Geschwindigkeitskontrolle und Abstand verschlechtern sich, das Sicherungsverhalten durch Kontroll- und Orientierungsblicke bleibt aus, schlussendlich werden kritische Situationen zu spät erkannt. Laut der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie ist die Ablenkung durch fahrfremde Tätigkeiten ein aufmerksamkeitsbeeinträchtigender Prozess, der die menschliche Informationsverarbeitungskapazität an die Ressourcenerschöpfung führen kann. Demnach sind vor allem Fahranfänger davon betroffen, da sie noch keine automatisierte Handlungsroutine aufweisen. Aber: „Auch ältere Autofahrer fühlen sich in Situationen mit vielen Reizen eher überfordert, weil das Sehvermögen und die Leistungsfähigkeit abnehmen“, gibt Müller zu bedenken.
Viele Fahrzeuglenker gehen davon aus, dass sich Fahren und Techniknutzung vereinbaren lassen, und unterliegen dabei einem trügerischen Sicherheitsgefühl. Das Problem: Wenn man immer wieder erlebt, dass man trotz Ablenkung keinen Unfall hat, wird der Eindruck verstärkt, dass Ablenkung nicht gefährlich ist.
Schalter verschwinden
Bei der Technik hält insbesondere der Touchscreen im Innenraum eine Vielzahl von Reizen zur Ablenkung bereit. Die Bildschirmfunktionen haben in den vergangenen Jahren viele Schalter, Rädchen und DrehDrück-Steller aus dem Cockpit verdrängt. So wie beim neuen VW Golf 8 etwa. Statt des bekannten, links neben dem Lenkrad platzierten Drehreglers für Lichtfunktionen erwartet den Fahrer in den höheren Ausstattungsstufen eine berührungsempfindliche Bedienfläche für Licht, Front- und Heckscheibenheizung. Auch das Klima-Bedienteil des Vorgängers mit Dreh- und Druckknöpfen und einer Tastenleiste in der Mittelkonsole ist verschwunden. Die Temperatur lässt sich mithilfe zweier flacher Bedienflächen mit dem Finger unterhalb des Zentralmonitors steuern. Ob das auch bei höheren Geschwindigkeiten zielsicher funktioniert, bleibt dahingestellt. Wer Feineinstellungen wie Luftverteilung oder Gebläsestärke regulieren will, muss über den Touchscreen das Menü anwählen. Wie für vieles andere auch, etwa um Assistenzsysteme oder die Park- und Rangierhilfe zu konfigurieren. Alternativ sind einige Funktionen aber auch per Sprach- und Gestensteuerung anwählbar.
Kein Feedback
Das Grundproblem klassischer Touchscreens ist, dass auf einem kontaktsensitiven Display in der Regel die haptische Rückmeldung eines Schalters fehlt. Deshalb müssen die Bedienflächen groß genug vorgesehen werden, damit der Autofahrer die Funktion auch zuverlässig während der Fahrt bedienen kann. Überwiegend in Premiumfahrzeugen bieten einige Automobilhersteller beim Fingertipp auf eine gewünschte Funktion im Monitor und auf Bedienfeldern ein sogenanntes aktives haptisches Feedback an. Mithilfe eines künstlich erzeugten Impulses erhält der Fahrer gefühlt eine ähnliche Rückmeldung wie bei der Betätigung einer herkömmlichen Taste. Dennoch löst auch dieses Hilfsmittel nicht das Problem, dass die Funktion während der Fahrt auf dem planen Bildschirm erst einmal korrekt getroffen werden muss. Was bringt Automobilhersteller also dazu, immer mehr Funktionen über den Touchscreen zugänglich zu machen? Die Antwort gibt Rainer Grünen, Ergonomie-Experte in der Autoindustrie. „Die Flexibilität in der Entwicklung ist größer, weil man eine Anzeige auf einem Bildschirm viel einfacher gestalten und aktivieren kann. Ein sogenannter hart verdrahteter Schalter benötigt einen reservierten Bauraum und einen von Anfang an vorgesehenen festen Ort im Fahrzeug, etwa in der Instrumententafel, der Tunnelkonsole oder in der Dachbedieneinheit. Aber es gibt immer zu wenig Platz und zu wenig Schalter in den Fahrzeugen. Ein Touchscreen bietet den Entwicklern einen eleganten Ausweg aus dieser Misere."
Schalterplatz leichter zu erlernen
Der Nachteil: Ein wesentliches Attribut der Bediensicherheit ist die Erlernbarkeit des Bedienortes. „Ein Schalter, der immer an der zuverlässig gleichen Stelle des Fahrzeuginnenraums zu finden ist, ist sehr leicht zu erlernen“, sagt Grünen. Auch wenn einige Funktionen nah beieinander liegen und für Autofahrer schwerer zu unterscheiden sind, merken sie sich einfach den Bedienort. „Den Vorteil haben eben nur feste Schalter, die nicht von anderen Anzeigeinhalten verdeckt werden wie beim Bildschirm“, erklärt Grünen. Zu kleinteilige Bedienfelder lassen sich während der Fahrt nicht zuverlässig antippen. „Vergessen wir nicht, dass viele der kleinen und großen Fahrbahnunebenheiten gefedert und gedämpft in den Innenraum als Schwingung übertragen werden. Dadurch ist es schwer, einen bestimmten Punkt auf dem Bildschirm genau mit einem ausgestreckten Finger zu treffen“, sagt Grünen. In der Folge muss der Bedienvorgang wiederholt werden, was die Ablenkung vom Verkehrsgeschehen weiter erhöht.
Auge verliert im Alter die Fähigkeit der Nahakkommodation
Da der Platz auf den Bildschirmseiten begrenzt ist, können Designer Schaltflächen häufig nur dann unterbringen, wenn sie diese verkleinern, was die Bedienung während der Fahrt nicht einfacher macht und ältere Fahrer noch vor ein anderes Problem stellt: „Ein Touchscreen ist immer Anzeige und Schalter zugleich. Er muss immer in Reichweite sein, was aber die Ablesbarkeit durch die Nahakkommodation des Auges stark beeinträchtigt“, sagt Grünen. Unter Nahakkommodation versteht man die Fähigkeit der Augenlinse, sich so zu verändern, dass Dinge, die sich nahe vor dem Auge befinden, scharf zu erkennen sind. „Zwischen dem vierzigsten und fünfzigsten Lebensjahr verliert das menschliche Auge aber enorm die Fähigkeit der Nahakkommodation und die minimale Sehweite liegt ungünstigerweise außerhalb der Reichweite der Hände“, sagt Grünen. Während ein Arm meist zwischen fünfzig und sechzig Zentimetern lang ist, liegt die Sehweite bei fortgeschrittenem Alter darüber.
Das lässt farbenfrohe, kontrastarme Bilder mit zarten Symbolen und kleinen Schriften unscharf erscheinen.
Dennoch kann das Urteil des OLG Karlsruhe dazu beitragen, dass künftige Bildschirminhalte für eine bessere Bedienbarkeit angepasst werden. „Solche Fälle haben einen unglaublich großen Einfluss auf die technische Entwicklung“, sagt Grünen. Offen bleibt, ob sich der US-Hersteller Tesla von einem deutschen Gericht beeinflussen lässt, solange ein gesetzlicher Rahmen fehlt. Und das dauert, wie Christian Aldebert betont: „Dafür ist der Gesetzgeber viel zu langsam und die technische Entwicklung viel zu schnell, der Gesetzgeber wird immer hinterherhinken.“
Und so bleibt nur zu hoffen, dass künftige Entwicklungen stärker die Ergonomie und nicht die Technik in den Fokus nehmen, um Unfälle durch Ablenkung möglichst zu vermeiden.
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