21.01.2021 Von Jessica Blank

Mehr Schutz für Kinder im Straßenverkehr

Weltweit sind Kinder im Straßenverkehr eine gefährdete Gruppe – das zeigen auch die Statistiken. Zwar werden die meisten unter 15-Jährigen in Ländern mit niedrigem und mittlerem ­Einkommen bei Unfällen getötet, doch auch hierzulande gibt es noch viel Handlungsbedarf, um die Teilnahme am Straßen­verkehr für die Jüngsten sicherer zu machen. In einer ­fortlaufenden Serie wollen wir in jeder Ausgabe von Auto&Reise verschiedene Aspekte beleuchten. Zu Beginn betrachten wir die globalen Unfallzahlen und die zehn Strategien der Weltgesundheitsorganisation.


Reflektoren am Schulranzen, Gehweg, Zebrastreifen, Schülerlotsen – Plastiktüte, Randstreifen eines vierspurigen Highways, keinerlei Überquerungshilfen. So unterschiedlich gehen Kinder in verschiedenen Teilen der Welt zur Schule. Und das spiegelt sich auch in den Unfallzahlen wider. Laut Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) der University of Washington in Seattle kommen 85 Prozent der bei Verkehrsunfällen getöteten Kinder unter 15 Jahren aus Staaten mit niedrigem oder mittlerem Einkommen. In Asien und Afrika sei das Problem am gravierendsten. Die neuesten Zahlen für alle Länder stammen aus dem Jahr 2017: Damals wurden laut IHME 112.000 Verkehrsteilnehmer unter 15 Jahren weltweit getötet. Zudem hat das Institut festgestellt, dass auf jedes getötete Kind weitere vier mit dauerhaften Behinderungen und zehn schwer verletzte Kinder kommen. Global betrachtet waren Verkehrsunfälle 2017 die häufigste Todesursache der 5- bis 14-Jährigen, gefolgt von Typhus und Malaria. In der EU machten sie in dieser Altersgruppe 12,7 Prozent aller Todesfälle aus.

So unterschiedlich die Verhältnisse in den Ländern sein mögen, die Gründe für das erhöhte Risiko von Kindern im Straßenverkehr sind überall ähnlich. Den jungen Verkehrsteilnehmern fehlt es an Erfahrung, sie können Risiko und Geschwindigkeit nicht richtig einschätzen, sind manchmal unachtsam und werden aufgrund ihrer Körpergröße schlechter wahrgenommen. Hinzu kommen zu hohe Geschwindigkeit, Ablenkung und fehlende Rücksichtnahme der anderen. Länderspezifische Besonderheiten zum Beispiel beim Schulweg verschlimmern die ohnehin schon prekäre Ausgangslage. „Allein ob ein Gehweg da ist oder nicht, macht schon einen riesigen Unterschied. Ob das Kind eine Warnweste anhat oder Reflektoren am Rucksack hat und damit besser sichtbar ist, oder ob es mit der Plastiktüte in der Dunkelheit loslaufen muss, um den langen Schulweg zu absolvieren“, sagt Markus Egelhaaf, Leiter der DEKRA-Unfallforschung. Im Verkehrssicherheitsreport 2019 hat die DEKRA das Thema Kinder im Straßenverkehr weltweit in den Fokus genommen. „Man kann es nicht global sehen, man muss da wirklich in jedes einzelne Land reingehen, aber letztendlich spielt es eine enorme Rolle, welchen Status die Sicherheit des Kindes in dem jeweiligen Land hat und wie viel ein Leben dort wert ist“, erklärt Egelhaaf.

Doch nicht nur weltweit gesehen gibt es Unterschiede, auch in Europa klaffen große Lücken in diesem Bereich. So weisen Schweden, Norwegen und Großbritannien die niedrigsten Todeszahlen im Straßenverkehr auf mit um 0,4 pro 100.000 Personen dieser Altersgruppe (Mittelwert aus 2011 bis 2016). Aber höheres Einkommen bedeutet nicht zwangsläufig höhere Verkehrssicherheit. Ungarn und Dänemark haben Werte um 0,8 bei einem jährlichen Durchschnittseinkommen pro Kopf von 13.260 beziehungsweise 61.680 Euro.

Vorbild Schweden

Schweden ist bei der Verkehrssicherheit ein Vorreiter in Europa. So richtete das Land Mitte der 1960er-Jahre seine Strategie für Kinder neu aus und konnte die Zahl der Getöteten bis 17 Jahre von 200 auf durchschnittlich 15 Kinder pro Jahr senken. Schweden hat die Vision Zero – das Ziel keine Verkehrstoten mehr zu haben – zur Regierungssache erklärt, „was infrastrukturseitig sicher positive Auswirkungen hat“, meint Egelhaaf. Denn es sei auch eine Frage des Geldes, wie viel in die Infrastruktur gesteckt werde, um Unfälle zu vermeiden. „Da haben die skandinavischen Länder und Großbritannien uns sicher ein bisschen was voraus“, sagt der Unfallforscher. Der Europäische Verkehrssicherheitsrat (ETSC), dem der ARCD als einziger deutscher Automobilclub angehört, berichtet in seinem PIN Flash Report 2018 über 8.100 bei Verkehrsunfällen getötete Kinder in den Jahren 2006 bis 2016. Die Daten von 27 EU-Staaten sind darin eingeflossen. Dabei war die Todesrate in Rumänien siebenmal höher als in Schweden, Norwegen und im UK.

EU-weit passieren die meisten tödlichen Unfälle bei Kindern zwischen 10 und 13 Jahren, die vor allem auf dem Schulweg öfter ohne Erwachsene unterwegs sind. Ein großes Problem zeigt sich aber auch durch das Elterntaxi. Nicht nur das Verkehrsaufkommen steigt dadurch im Bereich von Schulen und Kindergärten. „Kinder werden total überwacht, jede Selbstständigkeit wird ihnen genommen, weil man das Kind ins Auto setzt und überall hinfährt“, sagt Egelhaaf. Dadurch verliere das Kind die Möglichkeit, Erfahrungen im Straßenverkehr zu sammeln.

Fehlerhafte Sicherung

Auch fehlende oder falsche Kindersicherung im Auto ist ein Risikofaktor in der EU. „Laut der Weltgesundheitsorganisation reduzieren ordnungsgemäß angebrachte und verwendete Rückhaltesysteme für Kinder die Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Unfalls um bis zu 80 Prozent“, schreibt Antonio Avenoso, Executive Director des ETSC, in genanntem DEKRA-Report. Seitens der Eltern sei viel Verantwortung gefragt, um das Kind richtig anzuschnallen, auch wenn es nur die absolute Kurzstrecke sei, macht Egelhaaf deutlich.

Schaut man direkt auf Deutschland, liefert das Statistische Bundesamt neuere Unfallzahlen aus dem Jahr 2019. 28.005 unter 15-Jährige verunglückten im Straßenverkehr, 55 davon tödlich – 24 weniger als 2018. Drastischer sah die Statistik 1978 aus, als sie erstmals für Gesamtdeutschland vorlag: 72.129 Kinder kamen zu Schaden, 1.449 wurden getötet – das sind 26-mal mehr als 2019. Viel Aufklärungsarbeit hat zu diesem positiven Trend beigetragen. „Die Wahrnehmung des Kindes im Straßenverkehr ist verändert worden durch sehr viele Maßnahmen, die wohl wirklich effektiv waren“, erklärt Egelhaaf. Dazu gehöre auch die zunehmende Fahrzeugsicherheit. „Die Fahrzeugfrontstruktur ist immer mehr umdesignt worden, hier gibt es mehr Assistenzsysteme wie Notbremsassistent und Co., die zur Unfallvermeidung oder Unfallfolgenverhinderung beitragen können.“

Zehn Strategien

Auch die globalen Todeszahlen haben sich laut IHME seit 1990 um die Hälfte reduziert. Dabei förderlich waren sicherlich die zehn Strategien für die Verkehrssicherheit von Kindern, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 2010 bis 2020 ausrief. „Es gibt einige Strategien, die auch in Deutschland noch weiterverfolgt werden müssen und können. Von daher sind diese zehn Strategien sicher nicht die wesentlichen Punkte, die jetzt nach zehn Jahren abgelaufen sind, sondern die weiterhin Bedeutung haben“, sagt Egelhaaf. Gerade beim Thema Geschwindigkeit sieht er noch Potenzial. Je langsamer ein Auto fährt, umso mehr hat ein Kind die Möglichkeit, die Geschwindigkeit realistisch einzuschätzen. Sollte es zu einem Unfall kommen, sind auch die Folgen geringer. Andere Punkte der WHO wie Sichtbarkeit, Fahrzeugstruktur oder spezielle Notfallversorgung für Kinder wurden hierzulande schon weitgehend verwirklicht. Ausbaufähig ist noch der Aspekt der korrekten Kindersicherung in Fahrzeugen oder die Nutzung eines Fahrradhelms. Laut ETSC reduziert ein Fahrradhelm das Risiko schwerer Kopfverletzungen um mehr als 65 Prozent. Dennoch gibt es in Deutschland für Kinder keine Helmpflicht, in anderen europäischen Ländern schon. Auch das Thema Straßeninfrastruktur ist bei uns weiter aktuell. „Hier wird sehr viel noch umgesetzt, was nicht unbedingt kinderfreundlich ist, wo Kinder nicht so beachtet werden, wie es vielleicht sinnvoll wäre“, meint Egelhaaf. Weitere Punkte der WHO sind Alkohol am Steuer zu reduzieren durch Alkoholsperrsysteme zum Beispiel in Schulbussen, Risikominimierung für junge Fahrer – in manchen Länder ist der erste Führerschein schon mit 14 Jahren möglich – und Überwachung von Kindern im Straßenverkehr.

Jetzt ist es an den Staaten, die Strategien weiterzuführen, wo es nötig ist. „Der große Vorteil dieser Strategien ist, dass die nationalen Gremien etwas haben, worauf sie sich beziehen können“, erklärt Egelhaaf. Deshalb seien sie genauso wichtig wie vor zehn Jahren und der Westen habe den Auftrag, auf dieser Basis die Regionen mit mittlerem und niedrigem Einkommen zu unterstützen.

Internationale Arbeit

Die Unfallforschung beschäftigt sich ebenfalls damit, was man von anderen Staaten lernen kann und welche Maßnahmen weitergegeben werden könnten. „Vor 20 Jahren hat man sehr national gearbeitet, da ist man jetzt deutlich internationaler unterwegs“, sagt Egelhaaf. In diesem Sinne könnten sich alle Länder die Worte von Prof. Anders Lie vom Schwedischen Zentralamt für Verkehrswesen, Trafikverket, im DEKRA-Verkehrssicherheitsreport zu Herzen nehmen: „Nun sind wir alle gefragt, unsere Verantwortung wahrzunehmen und dazu beizutragen, dass unsere Straßen und Wege noch sicherer werden, damit Eltern keine Angst mehr haben, wenn sich ihre Kinder auf ihnen bewegen. Heute
ist das Wissen der Schlüssel zur Entstehung einer sicheren urbanen Mobilität.“