Natürliche und recycelte Materialien bieten Alternativen für Innenräume moderner Autos
Wer an alte Fischernetze aus dem Meer, gebrauchte Plastikflaschen vom Recyclinghof, Kakteen und Ananasblätter denkt, wird wohl kaum darauf kommen, dass diese für Innenraummaterialien von Autos verwendet werden können. Was dahinter steckt und wie nachhaltig solche Projekte tatsächlich sind, haben wir uns angesehen.
Bis spätestens 2050 will sich die deutsche Autoindustrie bilanziell vollständig klimaneutral aufgestellt sehen. Um das ehrgeizige Ziel zu erreichen, nutzt sie unterschiedliche Stellschrauben, wie etwa den Wandel zur Elektromobilität, Produktionsprozesse mit Strom aus erneuerbaren Energien oder den schonenden Umgang mit Ressourcen. Im Hinblick auf die Ressourcen werfen die Entwickler auch einen Blick in den Fahrzeuginnenraum. In diesem finden sich bislang vorwiegend Rohstoffe auf fossiler Basis wie Polyester oder auf tierischer Basis wie Leder.
Strenge Anforderungen an Materialien
Und das hat Gründe: Autositze etwa müssen im Alltag eine Menge aushalten. Die Anforderungen an das Material werden von den Autoherstellern in einem Maßnahmenkatalog anhand strenger Qualitätskriterien genau festgelegt. Doch damit ist es nicht getan. Bei Seat etwa steigt in der Entwicklungsphase ein Heer an Testern unterschiedlicher Größe und Statur bis zu 6.000 Mal pro Woche in ein Auto ein und wieder aus, um zu simulieren, was ein Autositz innerhalb von fünf Jahren auszuhalten hat. Ebenso führt eine Maschine auf dem Prüfstand drei Wochen lang permanent über 22.000 Reibzyklen auf dem Oberflächenmaterial aus und bildet damit die Bewegung eines über 100 Kilogramm schweren Passagiers nach. Versagt ein Material, wird es aussortiert.
Nicht nur schärfere Umweltschutzauflagen, auch der Ruf der Kunden nach umweltfreundlicheren Autos hat die Industrie aber in den vergangenen Jahren zum Umdenken bewegt. An Ideen mangelt es dabei nicht: Vorreiter bei tierfreien Alternativmaterialien ist die Modeindustrie. Sie forscht an Algen, Pilzmyzelien und Fasern aus Bananen-, Ananas- und Kakteenpflanzen. Inzwischen sind schon über zwanzig verschiedene Lederalternativen und -imitate auf dem Markt erhältlich.
Da liegt es nahe, dass auch die Autoindustrie den Innenraum von Fahrzeugen nachhaltig und vegan gestalten möchte. Mit dem mexikanischen Start-up Adriano di Marti erforscht BMW etwa einen nachhaltigen Werkstoff namens Deserttex, der aus pulverisierten Kaktusfasern und einer biobasierten Polyurethan-Matrix besteht. Laut den Entwicklern sei das Kaktus-Produkt nicht nur umweltfreundlich, sondern auch besonders nachhaltig. Denn der Nopal-Kaktus, aus dem das Material hergestellt wird, brauche zum Wachsen nur sehr wenig Wasser und lasse sich an vielen Orten Mexikos anpflanzen. Jährlich werden dort Tausende Tonnen Nopal geerntet. Für das Endprodukt arbeitet das Unternehmen mit einem Trägermaterial aus Baumwolle, auf das die Kaktusfasern aufgebracht werden. Nachteil: Die Haltbarkeit der tierfreien Alternative beträgt aktuell nur etwa zehn Jahre.
Andere Hersteller setzen auf sogenanntes Ananasleder. „Dabei handelt es sich um eine Ananasfaser, die mit fossilen Bindemitteln und Beschichtungen versehen ist. Mit Leder hat das aber nichts zu tun, obwohl es als Alternative angeboten wird“, erklärt Professor Michael Meyer, Wissenschaftlicher Direktor des FILK Freiberg Institutes. Von echtem Leder unterscheide es sich optisch und haptisch. Die Herstellung sei auch eher als Handwerk und nicht als technischer Produktionsprozess zu verstehen. Insofern lasse sich das Material nicht in den Mengen verarbeiten, wie es die Autoindustrie benötige.
Autohersteller erkennen Nachteile
Die Begeisterung für alternative Materialien hatte vor Jahren auch den Elektroautohersteller Polestar erfasst. Aus Tierschutzgründen wollte die Volvo-Tochter Echtleder vollends aus ihren Fahrzeugen verbannen. Im Dezember 2022 musste der Hersteller aber einräumen, dass sich die pflanzlichen Alternativmaterialien noch nicht als Bezugsstoff für Autositze eigneten, da sie die Anforderungen an Langlebigkeit und Strapazierfähigkeit nicht erfüllen. Obwohl der Markt für pflanzenbasierte Materialien kontinuierlich wachse, sei es offensichtlich, so das Unternehmen, dass selbst die hochwertigsten Lederalternativen bei Weitem noch nicht so haltbar seien wie echtes Leder, das natürlich, robust, anpassungsfähig und dazu noch atmungsaktiv sei.
Bliebe noch die Möglichkeit, den Verarbeitungsprozess von Echtleder nachhaltiger zu gestalten. Momentan setzt die Industrie dabei überwiegend auf die Chromgerbung. Unter unsachgemäßen Gerbbedingungen ist Chrom gesundheitsschädlich, was Industrieangaben zufolge aber vermieden werden könne. Beim neuen vollelektrischen BMW iX verwenden die Münchner zur Gerbung von Echtleder pflanzliches Olivenblattextrakt, das aus Blättern des Olivenbaums gewonnen wird und vor allem in der Medizin Verwendung findet. Professor Meyer nach schränken hohe Preise und eine begrenzte Verfügbarkeit den Einsatz im Autoinnenraum aber deutlich ein. „Olivenblattextrakt bekommt man für edle Nischenprodukte bei Daimler oder Audi durch, es macht aber keinen Sinn für den Massenmarkt – vollkommen illusorisch.“
Bedeutend preiswerter ist dagegen Kunstleder, das ökologisch irreführend auch als veganes Leder bezeichnet wird. „Kunstleder besteht immer aus fossilen Rohstoffen. Die Haupttypen sind Polyurethan-, Polyvinylchlorid- (PVC) und Silikon-Kunstleder, das aber deutlich teurer ist und noch nicht in den Markt eingedrungen ist“, sagt Professor Meyer. Dass Kunstleder von Autoherstellern als vegan tituliert wird, sei zwar sachlich richtig, der Wissenschaftler bezeichnet es dennoch als Etikettenschwindel, da es zwar frei von tierischen Produkten, aber nicht frei von erdölbasierten Rohstoffen sei. Seiner Meinung nach betreiben die Hersteller damit sogenanntes Greenwashing. Dabei handelt es sich um PR-Methoden, die Unternehmen ein umweltfreundliches und verantwortungsbewusstes Image verleihen sollen, ohne dass es dafür eine Grundlage gibt.
Fischernetze werden zu Fußmatten
Eine echte Grundlage für Umwelt- und Verantwortungsbewusstsein gibt es dagegen im Kampf um die Säuberung der Weltmeere von sogenannten Geisternetzen. Dabei handelt es sich um verlorene und aufgegebene Fischernetze, die in den Ozeanen unkontrolliert unterhalb der Wasseroberfläche treiben und in denen sich viele Fische und Wasserlebewesen verfangen. Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) schätzt, dass jedes Jahr 640.000 Tonnen verlassene Fischereiausrüstungen in die Meere gelangen. Neben BMW und Mercedes-Benz unterstützt auch Hyundai Meeresschutzorganisationen wie Healthy Seas, die sich ehrenamtlich mit Spendengeldern um die Bergung der bis zu zehn Kilometer langen Netze kümmern. Zusammen mit weiterem Abfall recycelt das Unternehmen Aquafil, ein Gründungspartner von Healthy Seas, die Geisternetze zu Nylongarn. „Aus alten Fischernetzen können in der Regel keine neuen Fischernetze hergestellt werden. Aber Recycling zu Fußmatten ist beispielsweise möglich“, sagt Professor Christoph Herrmann, Institutsleiter Nachhaltige Produktion & Life Cycle Engineering der TU Braunschweig. Hyundai nutzt das aufgearbeitete Garn zur Produktion eben jener Fußmatten, die Kunden für das E-Auto Ioniq 5 bestellen können.
Auch gebrauchte PET-Flaschen finden sich im Innenraum von Autos wieder. So bestehen die Teppiche eines jeden Ford Ecosport aus insgesamt 470 recycelten Plastikflaschen. Um Teppiche aus Plastik herzustellen, werden Flaschen und Verschlüsse in winzige Flocken zerkleinert, eingeschmolzen und zu Fasern geformt. Zu Garn versponnen, kann das Material zu Teppichen verwebt werden. Was gut klingt, hat aber auch Nachteile, wie Professor Herrmann bemängelt: „Das PET kann nicht mehr zur Produktion neuer Flaschen verwendet werden und geht somit dem geschlossenen Materialkreislauf verloren.“ In einer im März 2022 veröffentlichten Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien hat die EU-Kommission das sogenannte Downcycling von PET-Flaschen als potenzielle „Irreführung der Verbraucher“ bezeichnet, es stehe nicht im Einklang mit dem Kreislaufmodell. Bei Kunststoffen sollten sich Recyclinganstrengungen eher auf Stoffe konzentrieren, deren Recyclingquoten gering wären oder für die bislang keine Recyclingoptionen am Markt etabliert seien.
Wissenschaftler des Instituts für Angewandte Geowissenschaften in Karlsruhe kommen zu dem Schluss, dass die Nachfrage nach Primär- und Sekundärrohstoffen in den kommenden Jahren aufgrund einer wachsenden Weltbevölkerung weiter steigen dürfte. Aber: „Der Bedarf der Automobilhersteller nach Recyclingmaterialien kann vom Markt nicht gedeckt werden“, warnt Professor Herrmann. Kurzfristig sei ein massentauglicher Einsatz von Sekundärrohstoffen deshalb nur eingeschränkt möglich. Mittel- bis langfristig dürfte der Anteil steigen, falls durch Forschung und Entwicklung robuste Recyclingrouten etabliert werden könnten und sich dadurch auch die Kosten reduzierten.
Künftig ist also zu erwarten, dass sich in Autos eine Vielzahl rückgewonnener Rohstoffe wiederfinden wird. Preisanstiege seien aber unumgänglich, prognostiziert Professor Herrmann. Wir müssten akzeptieren, dass nicht mehr nur die Wirtschaftlichkeit im Fokus stehen könne: „Ökologische und soziale Nachhaltigkeit müssen priorisiert werden.“
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