Digitale Überflutung – von Menschen, Maschinen und der Verkehrssicherheit
Touchscreen statt Tasten: Die Bildschirme in Autos werden immer größer, viele Bedienfunktionen in Untermenüs versteckt. Dadurch steigt das Risiko der Ablenkung, warnen Unfallforscher.
Ein paar Schalter und Knöpfe, garniert mit Zierrat aus Echtholz: Eine Limousine von Mercedes-Benz war früher sachlich-nüchtern gestaltet, das galt insbesondere für den Innenraum. Heute scheint Übersichtlichkeit nicht mehr gefragt, stattdessen preist der Hersteller das „digitale Erlebnis“ in der neuen E-Klasse (W214) an. Zentrum des Cockpits ist der sogenannte MBUX-Superscreen, den man mit allerlei Icons und Kacheln wie ein riesiges Smartphone bedient. Mit der aktiven Ambientebeleuchtung sollen Insassen Musikstücke und Sounds von Filmen oder Apps sogar unterwegs „sehen“ können.
Für Technik-Nerds mögen derlei Gimmicks verlockend sein, aus Sicht von Verkehrsforschern ist die Entwicklung ein Problem. Mit der Digitalisierung von Autos wächst nämlich auch die Gefahr der Ablenkung – wenn der Innenraum zur Event-Location wird und die Konzentration am Steuer nicht mehr allein darauf gerichtet ist, wo sie hingehört: auf die Straße beziehungsweise auf das Verkehrsgeschehen.
Dabei ist die neue E-Klasse von Mercedes kein Einzelfall. Die Smartphonisierung von Autos schreitet herstellerübergreifend voran – selbst Einsteigermodelle kommen heute kaum noch ohne serienmäßigen Bildschirm zumindest in Tabletgröße aus. Wer im Alltag nicht aufs mobile Endgerät verzichten kann, möchte es eben auch im Auto nicht missen.
Nun ist Handynutzung am Steuer verboten. Viele tippen und wischen trotzdem. Die Polizei schätzt, dass die Hälfte der deutschen Autofahrerinnen und Autofahrer während der Fahrt telefoniert – ohne Freisprechanlage. Jeder sechste Fahrer schreibe unterwegs sogar SMS- oder Whatsapp-Nachrichten. Das führt regelmäßig zu teils schweren Unfällen, denn wer aufs Smartphone schaut, ist mit seinem tonnenschweren Fahrzeug im Blindflug unterwegs.
Erhebliche Tücken tief im Menü
Doch was ist mit der Bedienung von fest installierten Touchscreens? Ob und wie stark die überbordenden Assistenz- und Infotainmentsysteme in modernen Autos vom Verkehrsgeschehen ablenken, wurde bislang praktisch kaum erforscht. Eine aktuelle Studie der Unfallforschung der Versicherer (UDV) hat das Ablenkungspotenzial von sogenannten Mensch-Maschine-Schnittstellen (MMS) in Fahrzeugen nun erstmals untersucht.
Weil es keine rechtliche Norm gibt,
bastelt sich jeder Autohersteller selbst etwas zusammen
Das Ergebnis ist alarmierend: Danach bergen Touchdisplays ein „hohes Ablenkungsrisiko“ – auch wenn sie vermehrt verwendet und von den Kundinnen und Kunden gewünscht würden. „Vor allem wenn Funktionen tief in der Menüebene eingebettet und nur mit mehreren Zwischenschritten zu erreichen sind, ist eine längere Blickabwendung von der Fahrbahn unabdingbar“, sagt UDV-Leiter Siegfried Brockmann.
Ein Beispiel für die vermeintliche Erleichterung der Cockpit-Bedienung ist der Scheibenwischer. Dessen Intervallschaltung ließ sich früher analog und intuitiv über einen Schalthebel am Lenkrad regeln – egal ob man in einem Mercedes, Opel oder Toyota saß. Durch die Digitalisierung wanderte die Scheibenwischereinstellung inzwischen bei einigen Modellen in das Touchdisplay.
Ein Ertasten ohne Blickabwendung von der Fahrbahn, wie zum Beispiel bei Hebeln und Schaltern, sei so nicht mehr möglich, heißt es in der UDV-Studie. „Wenn Funktionen dann auch noch tief im Menü versteckt sind, muss der Blick entsprechend lange von der Fahrbahn abgewendet werden.“ Gesetzlich erlaubt sei aber nur eine kurze Blickabwendung, die dem jeweiligen Verkehr und der Witterung angemessen sein müsse.
Doch was bedeutet kurz und was angemessen? Ein Tesla-Fahrer jedenfalls blickte nach Auffassung der Justiz zu lange auf den Bordbildschirm: Schon 2020 bestrafte das Oberlandesgericht Karlsruhe den Mann mit Geldbuße und einem Monat Fahrverbot – er hatte während der Fahrt versucht, im Untermenü das Scheibenwischer-Intervall einzustellen und war dabei von der Fahrbahn abgekommen. Damit habe er ein elektronisches Gerät regelwidrig benutzt, befand das Gericht: Der fest verbaute Touchscreen falle unter den Handy-Paragrafen der Straßenverkehrsordnung (§ 23 StVO). Danach ist nur eine „kurze, den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen angepasste Blickzuwendung“ zum elektronischen Gerät erlaubt.
Keine Normen, KI im Einsatz
Damals wertete die Justiz die Bedienung einer digitalen Fahrzeugfunktion erstmals als Verstoß und stellte die Bedienlogik von Touchbildschirmen somit insgesamt infrage. Doch grundlegend überprüft wurde das Unfallrisiko der Mensch-Maschine-Schnittstellen im Cockpit anschließend nicht. Im Gegenteil: „Weil es keine rechtliche Norm gibt, bastelt sich jeder Autohersteller selbst etwas zusammen“, kritisiert UDV-Leiter Siegfried Brockmann. Denn heutzutage differenzierten sich die Marken nicht mehr nur über Motoren oder Raumangebot, sondern insbesondere über das digitale Erlebnis im Innenraum. „Große, aufwendig gestaltete Touchscreens sind Teil der Marketingstrategie“, so Brockmann.
Mercedes-Benz erklärte auf Anfrage, dass Sicherheit für den Hersteller oberste Priorität habe. „Dazu gehört das Thema Fahrerablenkung, das wir bei der Entwicklung neuer Systeme berücksichtigen“, sagt eine Unternehmenssprecherin. So nutze Mercedes bei neuen Modellen weiter ein bestimmtes Set an „Hardkeys“ für die optimale Bedienung der Fahrzeugfunktionen. „Für Funktionen, für die es keine Hardkeys gibt, bieten wir unseren KundInnen ein optimales Bedienkonzept über Touch und/oder Sprache an.“
Dabei setzen die Stuttgarter wie andere Marken zunehmend auf Künstliche Intelligenz (KI). Das MBUX-Bedienkonzept in der neuen E-Klasse etwa umfasse „lernfähige Software“, die personalisierte Vorschläge für zahlreiche Infotainment-, Komfort- und Fahrzeugfunktionen unterbreite, erklärt das Unternehmen. „Beim sogenannten Zero-Layer muss die Nutzerin oder der Nutzer weder durch Untermenüs scrollen noch Sprachbefehle geben. Situativ und kontextbezogen erscheinen Applikationen auf der obersten Ebene im Blickfeld.“ So würden dem Fahrer mittels KI sogar etliche Bedienschritte abgenommen.
Trotzdem muss man sich in die unzähligen Bedienfunktionen eines hochdigitalisierten Neuwagens erst einmal hineinfuchsen. Kein Wunder, dass die Bedienungsanleitungen von modernen Pkw heute oft mehrere hundert Seiten stark sind. Vielfahrer wie Daniel Mieves haben aber gar nicht die Zeit, sich stundenlang mit diesen technisch diffizilen Kompendien zu beschäftigen. „Ich bin beruflich viel in Mietwagen unterwegs. Die Eingewöhnung in die unterschiedlichen Bedienkonzepte und ins Menü-Entertainment der einzelnen Hersteller und Marken kann schon sehr nervenaufreibend sein“, sagt Mieves, der bei German Autolabs in Berlin arbeitet.
Sprachsteuerung als echte Hilfe
Das Unternehmen entwickelt und optimiert für die Autoindustrie sprachgesteuerte Assistenzsysteme. Fahren und lenken, auf den Verkehr achten, eine bestimmte Adresse finden – gerade Berufskraftfahrer, Lieferanten oder Paketzusteller hätten am Steuer sehr komplexe Aufgaben gleichzeitig zu erledigen, erklärt Daniel Mieves. Mit einer hochgradig verbesserten Sprachsteuerung ließen sich diese Aufgaben erheblich einfacher und auch sicherer erledigen.
Sprachsteuerung und Touchscreens, ja. Aber auch klassische Tasten und Knöpfe für elementare Bedienfunktionen sind wichtig.
„Trotzdem sind wir davon überzeugt, dass eine Multimodalität in der Fahrzeugbedienung die beste Lösung ist und bleibt“, sagt Mieves. „Das bedeutet: Moderne Sprachsteuerung und Touchscreens, ja. Aber auch klassische Tasten und Knöpfe für elementare Bedienfunktionen sind wichtig, um so viele gewohnte Elemente wie möglich im Cockpit beizubehalten.“
Hersteller- und modellübergreifend regeln lässt sich dies, da sind sich Experten sicher, letztlich nur über verbindliche Standards. Damit Cockpits möglichst ablenkungsarm gestaltet werden, müssen die wesentlichen Funktionen einheitlich und möglichst mit analogen Tasten und Schaltern bedienbar sein – etwa durch die Positionierung des Warnblinkers mittig auf dem Armaturenbrett oder des Scheibenwischers am rechten Lenkstockhebel. „Für solche wichtigen Funktionen werden wir auch in Zukunft einen Knopf brauchen“, unterstreicht UDV-Leiter Siegfried Brockmann. Weniger relevante Komfort- oder Entertainmenteinstellungen indes könnten dann auf dem Touchscreen auf der ersten oder zweiten Menüebene untergebracht werden.
In weiteren Studien, beispielsweise in Fahrversuchen im Realverkehr oder in Fahrsimulatoren, will die UDV nun Indikatoren ermitteln, um das Ablenkungspotenzial verschiedener Mensch-Maschine-Schnittstellen festzulegen. Das Ziel sind Bewertungskriterien, mit denen Testinstitutionen wie EuroNCAP in Zukunft – ähnlich wie bei Crashtests von Karosserien – das Ablenkungsrisiko durch digitale Fahrassistenz- und Multimediasysteme überprüfen könnten.
Viele Funktionen brauchen Lösungen
Also doch lieber eine Rückkehr zu den fast vollkommen analogen Cockpits der Achtziger- und Neunzigerjahre? Siegfried Brockmann winkt ab: „Das ist auch keine gute Lösung, denn damit würden wir ja auch auf eine Vielzahl von hilfreichen digitalen Fahrassistenzsystemen verzichten.“ Der Unfallforscher hat einen anderen Ratschlag: Wenn schon Touchbildschirm im Auto, dann möglichst nicht während der Fahrt bedienen. Und eben auf verbesserte sprachgesteuerte Assistenzsysteme hoffen: „Die Hersteller müssen die Sprachsteuerung optimieren – darin liegt eine große Chance für die Verkehrssicherheit.“
In der neuen E-Klasse lautet das Zauberwort „Hey Mercedes“. So heißt der MBUX-Sprachassistent, über den Mercedes-Fahrer ohne Knöpfe zu drücken oder über einen Touchscreen zu wischen auf viele Infotainment- und Komfortausstattungen des Fahrzeugs per Sprachbefehl zugreifen können sollen – von der Zieleingabe ins Navigationssystem über die Wettervorhersage bis hin zur Steuerung der Sitzklimatisierung. Zudem gibt es die neue Funktion „Just Talk“. Damit lasse sich die intelligente Sprachsteuerung nun auch ohne Schlüsselwort aktivieren – der Fahrer müsse dafür nur im Fahrzeug sein, so der Hersteller.
Das Auto lernt künftig mit künstlicher Intelligenz, welche Komfortsysteme die Fahrenden wiederholt benutzen.
Und an der nächsten Erweiterungsstufe arbeite Mercedes bereits: „Das Auto lernt künftig mit künstlicher Intelligenz, welche Komfortsysteme (Sitzheizung, Sitzventilation, Sitzmassage) die Fahrenden wiederholt benutzen. Unter den gleichen Rahmenbedingungen soll die KI dann solche Funktionen automatisieren.“ Dabei sollen andere Innenraumsysteme sukzessive integriert und bestimmte Routinen möglich werden. Das Auto, das clever mitlernt und automatisch erkennt, was der Fahrer oder die Fahrerin möchte: Wenn es so weit kommt, könnten tatsächlich noch weniger Knöpfe und Schalter notwendig werden, als es einst in den analog gesteuerten Fahrzeugen nötig war. Und niemand wäre mehr verloren im Untermenü.
Titelfoto: Daimler