21.11.2024 Christian Schreiber

Voller Einsatz beim Eisklettern im Ahrntal

Das Ahrntal ist ein Hotspot fürs Eisklettern. Selbst Anfänger können sich versuchen und verbuchen schnell erste Erfolge. Aber auch anderen Wintersportlern bietet das Tal in Südtirol eine große Spielwiese. Die Möglichkeiten für Skitourengeher sind schier unendlich.


Unsere Körper fangen an zu zittern, sogar die Zähne klappern. Dafür gibt es mehrere Gründe: Es ist ein kalter Wintertag in einem engen Tal in Südtirol. Wir stehen an einer Wand, die jetzt im Februar kaum Besuch von der Sonne bekommt. Und so haben sich mächtige Eiszapfen gebildet, die in den Himmel wachsen. Es ist keine glatte Wand, vielmehr sieht es auf den ersten Blick aus, als wäre das Wachs einer riesigen Kerze übergelaufen. Da sind kleine Hubbel und Beulen, einzelne Stränge, die zusammenwachsen und sich wieder trennen und wie ein glatt gebundener Zopf zum Boden hinabfallen. Dazwischen lugt manchmal der schwarze Felsen hervor, der sich diesen Winterpanzer zugelegt hat. Die andere Ursache für unser Zittern: Wir wollen da rauf, mitten durchs Eis. Der Bergführer, der unsere Gruppe betreut, seilt gerade einen Kameraden ab. Wir zittern uns Richtung Fuß der Wand, gleich sind wir am Einstieg, gleich sind wir dran. 

Der Anfängerkurs findet im Ahrntal statt, dem nördlichsten Zipfel Italiens. Das Tal hat es sich bequem gemacht zwischen den Dolomiten im Süden, den Hohen Tauern im Osten und dem Zillertal im Norden. In Sachen Eisklettern zählt das Ahrntal zu den Hotspots im deutschsprachigen Alpenraum. Es existieren mehr als zwei Dutzend offizielle Eiskletter-Fälle mit mehr als 100 Routen, die in Führern beschrieben sind.
 

A statt X oder Y

Unser Spot ist die Angererwand, benannt nach dem Wirt, der hier ein Gasthaus betreibt. Wir sehen es, wenn wir uns vom Eis abwenden. Das würden wir jetzt am liebsten machen, denn der Respekt ist gewaltig. An unseren Schuhen sind Steigeisen montiert, in jeder Hand halten wir einen Pickel. Wir sollen uns wie eine Raupe fortbewegen, mit den Beinen steigen, dann den Oberkörper strecken und mit den Pickeln Halt finden. Im Idealfall bilden wir dabei ein A, die Füße weit auseinander, um Stabilität von unten zu bekommen, die Pickel nah beisammen einschlagen, um Kraft zu sparen. Wir merken sofort wie ein X oder ein Y die Armmuskulatur beanspruchen. Sofort kommt das Zittern zurück, das wir auf den ersten Metern abgelegt hatten. 

Die Herausforderungen sind enorm. Es ist ja nicht nur eine körperliche Sache – die Frage, ob man in Armen und Beinen genug Schmalz hat. Die mentale Belastung ist extrem hoch. Man braucht absolutes Vertrauen in die Eisgeräte, die eigene Kraft, die eigenen Fähigkeiten und den Seilpartner, der einen wie beim Felsklettern sichert. Und so beenden wir den ersten Versuch vor allem deshalb, weil der Kopf nicht mit dem klarkommt, was der Körper da macht. Weil wir zehn Meter über dem Boden mit ein paar dünnen Eisenzacken in einem Eiszapfen stecken und uns dabei einfach nicht wohlfühlen. Deshalb ist uns schon beim Abseilen klar, dass wir einen mentalen Matchplan brauchen, um hier erfolgreich zu sein und auch die finalen 15 Meter noch zu packen. Wir haben schon eine Idee. Und wir sind so frei und verraten vorab: Sie funktioniert. Am Ende stehen wir ganz oben und jubeln. 
 

Schnee als Spielverderber

An dieser Stelle sei zunächst ein Rückblick gestattet. Wir haben das Ahrntal gewählt, weil es Wintervergnügen vor allem abseits der Skipiste bietet. Das gilt fürs Eisklettern und das gilt fürs Tourengehen. Bei dieser Sportart, die in den vergangenen Jahren einen wahren Boom erlebt, benötigt man keinen Lift und keine Gondel. Man steigt mit Ski auf, an die ein spezielles Fell geklebt wird, das das Abrutschen verhindert. Oben am Berg zieht man es ab und fährt dort hinunter, wo weit und breit keine Piste ist und keine Massen an Menschen. 

Für unsere Tour haben wir uns die Almsiedlung Prastmann ganz im Osten des Ahrntals ausgesucht. Die einzigen Wege, die von dort weiterführen, muss man mit Langlauf- oder Tourenski bewältigen. Mehr als 50 Touren auf die umliegenden Gipfel sind ab hier möglich, sogar auf die Dreiherren-Spitze, mit 3.499 Metern die höchste Erhebung des Ahrntals. 

So hoch wollen wir nicht hinaus, der Aufstieg auf den Achselkopf (2.336 Meter) ist Herausforderung genug. Lange Zeit geht es gemächlich dahin. Wir queren den Berg, steigen über einen kleinen Fluss, dessen Brücke ziemlich vereist ist. Ski abschnallen, vorsichtig rübertasten, Ski wieder anschnallen. Der Weg wird steiler, am Ende müssen wir die Nordflanke bezwingen, wo sich der Schnee hart an den Berg gepresst hat. Am Gipfel hören wir Glocken, die am Kreuz befestigt sind. Der Wind versetzt sie in Schwingung, und sie bimmeln kräftig, als wollten sie uns begrüßen.

Bisher hatten wir Glück. Die Sonne hat uns lange Zeit begleitet, es war nicht allzu kalt, weil uns der Wind meistens verschont hat. Jetzt sollte eigentlich die Belohnung für den zweieinhalbstündigen Aufstieg erfolgen. Aber der Schnee spielt leider nicht mit. Der obere Deckel ist gefroren und bricht sofort ein, sobald man einen Schwung setzt. Das hat zur Folge, dass die meisten Teilnehmer immer wieder in den Schnee purzeln, weil sich die Ski partout nicht kontrollieren lassen. Bruchharsch nennt sich das und ist unter Tourengehern so beliebt wie Scharlach im Kindergarten. Dennoch: Wir machen das Beste daraus, indem wir die grandiose Landschaft genießen. Um uns herum reihen sich Dreitausender wie an einer Perlenkette.
 

Gemüseeintopf im Kopf

Das wiederum gilt auch fürs Eisklettern. Die Berge und die Landschaft im Ahrntal sind grandios. Wenn man aber gerade im Eisfall hängt, hat man dafür keine Zeit. Mehr als 20 Meter ragt die Säule aus gefrorenem Wasser senkrecht nach oben. Stück für Stück kommen wir höher, weil wir einen Blick für die Route entwickelt haben. Es gibt kleine Tritte und Löcher, geschlagen von unzähligen Vorgängern, die wir konsequent nutzen, um eine Chance zu haben. „Der Eisfall ist wie ein Schweizer Käse“, ruft Bergführer Gabriel Steger, der uns sichert, von unten. Er ahnt gar nicht, wie gut das zu unserer mentalen Taktik passt, die uns die Angst nehmen soll. Wir betrachten den Eisfall nicht mehr als furchteinflößendes, vor uns aufragendes Ungetüm aus gefrorenem Wasser, das launenhaft jederzeit bröckeln kann und uns den Halt rauben würde. Vielmehr konzentrieren wir uns auf die Strukturen des Eises, die einem Blumenkohl mit seinen Löchern, Fugen, Rillen und Kerben sehr ähnlich sind. Hinzu kommen die vielen kleinen, glatten Eismützen, die wie Pilzköpfe aussehen. Dieser Gemüseeintopf im Kopf nimmt uns die Anspannung. Mit dem bisschen Grünzeug werden wir ja wohl noch fertig werden. Zugleich öffnet er uns die Augen für die vielen Möglichkeiten, die wir mit den Ritzen und Löchern haben, um die Eisgeräte einzuhängen. Der letzte Meter. Oben. Uns ist warm, wir müssen die Jacke öffnen. Kein Zittern mehr.
 

ARCD-Reiseservice

  • Anreise:
    Das Ahrntal ist bequem mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Mit dem Zug von München nach Franzensfeste. Weiter mit der Regionalbahn nach Bruneck. Von dort per Bus ins Ahrntal.
  • Unterkunft:
    Hotel Reinerhof (Sand in Taufers): familiengeführtes Hotel mit frisch renovierten Zimmern und kleinem Wellness-Bereich, www.reinerhof.com
  • Einkehr:
    Talschlusshütte (Prastmann): liebevoll angerichtete Speisen und Getränke nach der Skitour, www.talschlusshuette.it
  • Eisklettern:
    auf Anfrage, z. B. unter www.faszination-berg.com
  • Auskünfte:
    www.ahrntal.com

Titelfoto Christian Schreiber


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