14.06.2024 Bettina Glaser

Der emotionale Weg zum „Fahrradführerschein“

Verkehrssituationen verstehen, Schilder erkennen, sicher links abbiegen – das ist nur ein Bruchteil davon, was rund 95 Prozent aller Schüler in Deutschland während ihrer Fahrradausbildung lernen. Wir haben eine Grundschulklasse mehrere Monate bis zur Prüfung und zur ersten Fahrt im Straßenverkehr begleitet.


Finn, Mustafa, Alina und ihre Mitschüler sitzen im Kreis. Gemeinsam tragen sie die Bestandteile eines verkehrssicheren Fahrrads zusammen. „Eine Klingel“, „ein Licht“, „Reflektoren“ sammeln sie verschiedene Begriffe. Es ist ihre erste Stunde zum Thema Fahrrad im Heimat- und Sachunterricht der Klasse 3/4e an der Pastorius-Grundschule in Bad Windsheim. Alle machen eifrig mit, freuen sich auf die folgenden Wochen mit Theorie- und Praxisunterricht bis zum „Fahrradführerschein“. Xenia hat heute ihr Fahrrad mit in den Unterricht gebracht. Mit Karten ordnen die Schüler diesem die Begriffe zu. „Nur mit einem Fahrrad, das all diese Dinge hat, darfst du auf der Straße fahren“, erklärt Lehrerin Carina Mahlein. „Und was brauchst du?“ Viele Finger schnellen in die Höhe. „Einen Helm“, antwortet Julia, die den „Fahrradführerschein“ besonders herbeisehnt. Da die Viertklässlerin in einem Gewerbegebiet wohnt, gibt es auf ihrem 1,5 Kilometer langen Schulweg nicht durchgehend einen Gehweg – so wird sie mit dem Auto meist ein Stück gefahren. Sie hofft, am Ende der Fahrradausbildung ihren Schulweg mit dem Fahrrad sicher allein zurücklegen zu können.

In den folgenden Theoriestunden bespricht die Lehrerin mit den Schülern das Linksabbiegen, die Bedeutung der Verkehrsschilder, -regeln und Vorfahrtssituationen. Das Übungsheft und das Kinderlied „An meinem Fahrrad ist alles dran“ begleitet die 23 Schüler während dieser Zeit.
 

Womit muss ein verkehrssicheres Fahrrad ausgestattet sein? Lehrerin Carina Mahlein bespricht mit den Dritt- und Viertklässlern die Bestandteile.  Foto: Bettina Glaser
Mit dem Arbeitsheft üben die Kinder im Unterricht Vieles zum Fahrradfahren im Verkehr.  Foto: Bettina Glaser

Umsehen, Handzeichen

Mit dem Wissen aus dem Unterricht und den Helmen im Gepäck darf die Klasse rund zwei Monate später zum ersten Mal auf den Verkehrsübungsplatz. Elke Bayer und Nabil El Halaby, Verkehrserzieher der Polizeiinspektion Bad Windsheim, erklären den aufgeregten Schülern dort, was sie in den drei eineinhalbstündigen Einheiten erwartet. „Jedes Mal wird’s ein bisschen schwerer“, kündigt Bayer an.

Ihr Kollege fährt auf einem gelben Klapprad die Strecke vor. Bevor er ein Hindernis passiert, dreht er sich um, gibt Handzeichen. „Das Gefährlichste ist, wenn ich nicht weiß, was von hinten kommt“, kommentiert Bayer. Dann darf die erste Hälfte der Klasse auf die silber-grünen Kinderräder steigen. Bei manchen wirkt das Handzeichen noch etwas wackelig, der Blick nach hinten zögerlich. Andere bekommen das motorisch schon recht gut hin. Plötzlich ruft Bayer einem Kind zu: „Fahr rechts!“ Es ist auf die falsche Fahrbahnseite geraten. Auch das punktgenaue Anhalten am Stoppschild und das Schauen nach links, rechts und hinten fällt manchen noch schwer. Immer wieder üben die Acht- bis Elfjährigen abzubiegen, sich umzusehen und auf die Vorfahrt zu achten.

Die 3/4e ist nun einmal pro Woche auf dem Verkehrsübungsplatz. Manche Kinder treffen sich sogar in der Freizeit, um das Gelernte zu üben. In den nächsten beiden Einheiten wird es – wie angekündigt – komplexer. Beim zweiten Besuch auf dem Verkehrsübungsplatz lernen die Schüler das Linksabbiegen, beim dritten wird dann alles Gelernte inklusive Rechts-vor-links-Regelung verlangt. „Das überfordert viele“, sagt Bayer. „Deshalb sagen wir den Kindern von Anfang an, dass es schwer wird.“

In der Schule müssen sie danach den ersten Teil der Prüfung ablegen: die Theorieprüfung. Allen ist bewusst, dass sie den Test bestehen müssen, um an der praktischen Prüfung überhaupt teilnehmen zu dürfen. Sie kreuzen an, wie sie sich in verschiedenen Situationen verhalten müssen, was die Schilder bedeuten und wer Vorfahrt hat. Ob sie bestanden haben, erfahren sie erst am Morgen der praktischen Prüfung. Während vier Kinder danach traurig sind, weil sie diese Hürde leider nicht geschafft haben, steigt beim Rest die Aufregung vor der praktischen Prüfung ins schier Unermessliche. Manche hüpfen herum, andere fragen der Lehrerin Löcher in den Bauch oder reden ohne Punkt und Komma. Julia ist von Muskelkater geplagt und wie alle anderen aufgeregt. „Da ist nichts drin, was ihr nicht schon gemacht habt“, beruhigt Lehrerin Mahlein ihre Schützlinge. Einer nach dem anderen fährt zunächst die Linksabbiegerrunde. Dann müssen die Prüflinge zehn Minuten frei auf dem Verkehrsübungsplatz herumradeln – natürlich unter strenger Beobachtung von Bayer und El Halaby. Bei den meisten sieht es nun viel flüssiger und sicherer aus als zu Beginn der Ausbildung. Doch natürlich passieren immer wieder auch Fehler – aus Aufregung oder anderen Gründen. 
 


Wimpel und Urkunden

Ob sie mit unter zehn Fehlerpunkten bestanden haben, erfahren die Dritt- und Viertklässler danach in der Schule. Bei vielen fällt die Anspannung ab, sie nehmen strahlend Wimpel, Urkunde und Fahrradpass von der Lehrerin entgegen. Doch es fließen auch erneut Tränen – wieder haben vier Kinder die Prüfung nicht geschafft. „Das ist guter Durchschnitt“, ordnet El Halaby ein. Sie haben zwei Wochen später die Möglichkeit, die Nachprüfung zu machen. „Davon schaffen es erfahrungsgemäß dann 50 Prozent“, sagt er und fügt hinzu: „Bestanden hat, wen wir mit gutem Gewissen in den Straßenverkehr lassen können.“ Mit dem Fahrrad auf der Straße dürfen laut Bayer natürlich trotzdem alle fahren.

Zum Abschluss der Ausbildung steht für die „Fahrradführerscheinneulinge“ die Stadtfahrt unter Realbedingungen – deshalb auch ohne Uniform der Polizisten – an. Ein Polizist vorne, einer hinten, dazwischen immer fünf bis sechs Kinder. Die jungen Verkehrsteilnehmer meistern die Strecke mit Stoppschild, Rechts-vor-links-Kreuzung und anderen Schwierigkeiten gut. Da fällt auch die Anspannung bei den Polizisten ab. Und Julia darf nun endlich mit dem Fahrrad zur Schule fahren.    
 

Interview mit Josef Weiß

Verkehrsexperte bei der Verkehrswacht, über die Radfahrausbildung in Deutschland

ARCD-Clubmagazin Auto&Reise:
Wie viele Kinder durchlaufen jedes Jahr die Radfahrausbildung in der Schule?

Weiß: Die Radfahrausbildung ist eine schulische Veranstaltung und in allen Bundesländern fest im Stundenplan verankert. Rund 95 Prozent aller Kinder nehmen nach unserer Einschätzung Jahr für Jahr an der Ausbildung teil.

Wie wichtig ist die Radfahrausbildung der Viertklässler für die Sicherheit im Straßenverkehr?

Die Radfahrausbildung leistet einen kaum zu überschätzenden Beitrag zur Verbesserung der Sicherheit der Kinder im Straßenverkehr. Sie erwerben die fürs Radfahren grundlegenden Kompetenzen, lernen die wichtigsten Verhaltensweisen und werden vorbereitet, Gefahren frühzeitig zu erkennen und richtig und situationsangemessen zu reagieren. Perfekte Radfahrer sind sie aber noch nicht. Die Radfahrprüfung gibt Kindern und Eltern eine Rückmeldung, was die Kinder schon können und was noch nicht. Auf jeden Fall müssen sie weitere Erfahrungen machen, Automatismen festigen und Routine erwerben. Auf dieser Grundlage können sie schrittweise ihren Mobilitätsradius erweitern. Das Fahrrad ist bei Jugendlichen nach wie vor Verkehrsmittel Nummer eins. 11- bis 13-Jährige legen doppelt so viele Wege mit dem Fahrrad zurück wie der Bevölkerungsdurchschnitt.

Wie ist die Radfahrausbildung in den verschiedenen Bundesländern geregelt?

Überall ist die Radfahrausbildung durch Richtlinien und Erlasse geregelt. In der Schule führen die Lehrkräfte die theoretische Ausbildung durch. Federführend bei der praktischen Ausbildung ist in der Regel die Polizei. Einzige Ausnahme ist Hamburg: dort führt die Polizei die theoretische und die praktische Radfahrausbildung durch.

Und wie ist sie aufgebaut?

Die eigentliche Radfahrausbildung findet in der (3. und) 4. Klasse statt. In der theoretischen Vorbereitung beschäftigen sich die Kinder mit den Grundlagen: dem verkehrssicheren Fahrrad, dem Fahrradhelm, den wichtigsten Regeln und Vorschriften. Großen Raum nimmt die Sensibilisierung für Gefahren und situationsadäquates Verhalten ein. Die Auseinandersetzung mit Fragen einer umweltfreundlichen, ressourcensparenden und nachhaltigen Mobilität gewinnt immer mehr an Bedeutung. Zu Beginn der praktischen Ausbildung wird geprüft, ob und wie gut die Kinder ihr Fahrrad beherrschen: geradeaus fahren, Spur halten, sich umsehen und einhändig fahren. Anschließend werden die Fahrfertigkeiten und die Fahrradbeherrschung anhand verkehrsbezogener Übungen trainiert.

In der praktischen Ausbildung müssen die Schülerinnen und Schüler ihr Rad so weit beherrschen, dass sie sich auf den Verkehr um sie herum konzentrieren können. Zunehmend mehr Kinder können das nicht, haben Probleme beim Losfahren, Spurhalten und Bremsen. Die Gründe sind unter anderem motorische Defizite und Bewegungsmangel sowie mangelnde Erfahrung beim Radfahren. Radfahren ist nicht mehr überall eine Selbstverständlichkeit.

Daher finden vielerorts in den ersten Grundschulklassen vorbereitend motorische Übungen statt, zum Beispiel Rollerfahren oder Übungen mit dem Rad. In manchen Bundesländern gibt es solche Ansätze schon länger, etwa das Frühradfahren 1/2 in Schleswig-Holstein.

Gibt es Unterschiede in der Radfahrausbildung in den verschiedenen Bundesländern?

Die Theorie unterscheidet sich wenig, je nach örtlichen Voraussetzungen werden einige Themen etwas intensiver besprochen. Ganz anders die praktische Ausbildung. Hier gibt es große Unterschiede. In einigen Bundesländern gibt es ein dichtes Netz an stationären Jugendverkehrsschulen, in anderen nicht. Ein Beispiel: Berlin hat 25 Jugendverkehrsschulen, Köln nur eine. In vielen Bundesländern finden die Übungen hauptsächlich im Schonraum (Jugendverkehrsschulen / Schulhof) statt, anderswo, zum Beispiel in NRW, wird wesentlich häufiger im Realverkehr geübt. Überwiegt in den Jugendverkehrsschulen das Üben auf Jugendverkehrsschulrädern, nutzen die Viertklässler im Straßenverkehr eher ihre eigenen Fahrräder. Die Polizei spielt in der praktischen Ausbildung überall eine zentrale Rolle, aber auch hier ist die Begleitung nicht überall gleich intensiv.

Was hat sich bei der Ausbildung in den letzten Jahren verändert?

Es gibt neue Möglichkeiten und Herausforderungen. Digitale Tests, Filme und Übungen ermöglichen inzwischen eine bessere theoretische Vorbereitung auf die Lernkontrolle. Auf die Herausforderungen durch die von Schule und Polizei festgestellte Verschlechterung der motorischen Fähigkeiten bei der praktischen Ausbildung wurde bereits eingegangen. Die Pandemie hat den Bewegungsmangel vieler Kinder noch verschärft. Hier werden verstärkte Anstrengungen notwendig sein.

 

Mehr Infos zur Radfahrausbildung

Titelfoto: Bettina Glaser